Cover
Titel
Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia


Autor(en)
Wulf, Meike
Erschienen
New York 2020: Berghahn Books
Anzahl Seiten
258 S., 4 Ill., 3 Tabellen
Preis
$ 34.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Frieß, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin

„It was no life all these decades [of Soviet occupation; NF]. It was something disgusting. It was far more horrible than Hitchcock’s movies and scripts. ‘The Birds’, do you know it? What one could watch there was like a children’s game, not horrible at all. But what one could experience here [post-war Estonia; MW], that was really horrible.“ (S. 118) Es sind eindrückliche Passagen wie diese aus dem Interview mit Vilhelm, einem zum Zeitpunkt des Interviews 70-jährigen emeritierten Professor für Geschichte, von denen Meike Wulfs „Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia“ lebt. Die Historikerin hat zwischen 1996 und 2004 mit 41 estnischen Intellektuellen Life Story Interviews geführt, die Einblick in bemerkenswerte Biografien und über diese in die Geschichte Estlands in den ersten 10 bis 15 Jahren nach der Unabhängigkeit des Landes geben, also in einer Zeit, in der sich die estnische Erinnerungskultur neuformierte. Fast 20 Jahre nachdem Wulf ihr letztes Interview geführt hat, zeigt die Monografie, dass viele der damals von den Interviewten skizzierten historischen Traumata angesichts des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine eine erschreckende Aktualität haben. Das Buch kann deshalb gerade einer westlichen Leserschaft dabei helfen, die aktuellen politischen Positionen der baltischen Staaten besser zu verstehen.

Wulf will mit ihrer Studie zu Estland zum einen untersuchen, wie insbesondere Historiker:innen historischen Wandel beurteilen und wie sich ihr eigenes Erleben auf die von ihnen als „Bedeutungsträger“ (S. 63) mitgeprägten historischen Narrative auswirkt. Zum anderen interessiert sie sich für Identitätsbildung in post-kommunistischen (sic!) Gesellschaften, wobei sie einen Schwerpunkt auf generationelle Identitäten legt. Dem theoretischen Teil (Kapitel 1), in dem Wulf sich mit kollektiver Erinnerung befasst und insbesondere Anleihen an den Ideen Aleida Assmanns zum kulturellen, sozialen und politischen Gedächtnis nimmt, merkt man an, dass er in den frühen 2000er-Jahren begonnen wurde. Das ist nicht weiter tragisch, da die Autorin ihrem theoretischen Konzept nicht übertrieben verhaftet ist. Dennoch wären Überlegungen zur Pluralität von Erinnerungen, wie sie nach Assmann in den Memory Studies weiterentwickelt wurden, für die Studie sicherlich gewinnbringend gewesen.1

Wulfs Überblick zur estnischen Geschichte „zwischen Teutonen und Slawen“ (Kapitel 2) fällt komprimiert und für eine Leserschaft mit geringem Vorwissen gut geeignet aus. Spannend sind dabei insbesondere Wulfs Ausführungen zur 700-jährigen deutschen Fremdherrschaft im Baltikum, deren negative Wertung sich mit der Zeit wandelte, wobei das negative deutsche Andere, das die estnische Bevölkerung unterdrückt habe, zu einem positiven Anderen geworden sei, das seinen Teil zur Herausbildung einer kulturellen Identität beigetragen habe. Allerdings habe sich dieser Wandel erst nach dem Ende der deutschen Präsenz in Estland vollziehen können, nachdem das innere Andere zu einem äußeren Anderen geworden sei (die Autorin zweifelt zurecht daran, dass dem russischen Anderen zeitnah eine ähnliche Umdeutung zuteilwerden könnte).

Für das Verständnis des weiteren Buchs relevanter sind indes die Unterkapitel zur ersten freien Estnischen Republik in der Zwischenkriegszeit, die während der Sowjetzeit ein wichtiger Bezugspunkt für estnische Intellektuelle blieb, zum doppelten Totalitarismus zwischen 1940 und 1945 sowie der Zeit bis zur erneuten Unabhängigkeit Estlands 1991. In ihrem historischen Überblick zeigt die Autorin auf, wie sich über die Jahrhunderte der Fremdherrschaft eine estnische Identität entwickeln konnte, die sich primär über ethnische Zugehörigkeit und Sprache definiert. Etwas bedauerlich an diesem prinzipiell aufschlussreichen Kapitel ist, dass es nahezu ohne Verweise auf estnische Forschungsliteratur auskommt, eine Tendenz, die sich durch das gesamte Buch zieht und bereits von anderen Rezensenten kritisiert wurde.2

Das Herzstück der Monografie bilden die Analysen der Life Story Interviews in den Kapiteln 3 bis 5. Die Rezensentin hätte hier gerne genauer erfahren, nach welchem Prinzip die Interviewten ausgewählt wurden. Denn neben estnischen Historiker:innen, über die sich Wulf erinnerungskulturelle Narrative erschließen will, sprach sie mit Angehörigen ganz unterschiedlicher Fachrichtungen; wie sich dem ausführlichen Anhang entnehmen lässt, sind beziehungsweise waren lediglich 20 von 41 Gesprächspartner:innen Historiker:innen. Zudem sind nicht alle Interviewten ethnische Est:innen, vielmehr – und das ist eigentlich besonders interessant – sprach sie auch mit Angehörigen der russischen Minderheit in Estland oder mit Menschen, deren Familien teils vor Jahrzehnten aus Estland emigrierten. Das macht die aus den Gesprächen gewonnenen Erkenntnisse nicht falsch, lässt aber die wiederkehrende Betonung, mit „professionellen Historiker:innen aus Estland“ (beispielsweise auf S. 7 oder S. 64) gesprochen zu haben, etwas merkwürdig erscheinen.

Wulf interviewte Angehörige von vier Generationen, die sie als „War Generation“, „Post-War Children“, „Transitional Generation“ und „Freedom Children“ terminiert. Sie macht unter den jeweiligen Vertreter:innen dieser Generationen starke Ähnlichkeiten aus, teils auch über ethnische Grenzen hinweg. Dies dürfte allerdings wohl insbesondere für die Generation der Nachkriegskinder zutreffen, die sich unabhängig von ihrer Herkunft noch mit einem gewissen Enthusiasmus im sowjetischen System engagierten, und weniger für die anderen Generationen, deren estnische Vertreter:innen stark am Kampf um die estnische Unabhängigkeit beteiligt waren. Die Autorin arbeitet aus den Interviews drei Kategorien formativer historischer Ereignisse heraus, welche die post-sowjetische estnische Identität prägten: Momente kollektiven Leidens wie die Deportation zehntausender Est:innen nach Sibirien, des kollektiven Widerstands, sowie eine Reihe von tabuisierten Ereignissen, die insbesondere estnische Kollaboration mit den sowjetischen, aber auch den deutschen Besatzern betreffen.

Wulf selbst bezeichnet die Deutungen dieser Ereignisse als „Babel von Stimmen und Gegenstimmen“ (S. 137). Das ‚Stimmengewirr‘ zeugt dabei von einer lebendigen Debatte, in der Akzentverschiebungen in den jeweils dominanten erinnerungskulturellen Narrativen stattfanden. So zeigt Wulf, wie sich durch Estlands EU-Beitritt 2004 die Wertung der estnischen Kollaboration mit den Nationalsozialisten veränderte, die zu Sowjetzeiten im Privaten und nach der Unabhängigkeit auch öffentlich als die Wahl für das Geringere von zwei Übeln und als Teil des Kampfs um die estnische Unabhängigkeit verstanden wurde. Sie macht allerdings auch deutlich, dass viele Est:innen die zu Sowjetzeiten erfahrene Unterdrückung bis heute mehr beschäftigt, was angesichts der weiterhin großen russisch(sprachig)en Minderheit in Estland gewaltige Herausforderungen für die Gesamtgesellschaft mit sich bringt. Diese noch nicht abgeschlossenen Debatten um neue estnische Identitäten aus den von Wulf gesammelten Stimmen nachvollziehen zu können, macht das Buch trotz einiger methodischer Mängel zu einer spannenden und aufschlussreichen Lektüre.

Anmerkungen:
1 Beispielsweise Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, S. 156–185; dies., Travelling Memory, in: Rick Crownshaw (Hrsg.), Parallax. Special Issue: Transcultural Memory, 17,4 (2011), S. 4–18; Gregor Feindt u.a. (Hrsg.), Entangled Memory. Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory 53,1 (2014), S. 24–44.
2 Lars Fredrik Stöcker, Rezension zu: Meike Wulf, Shadowlands. Memory and History in Post-Soviet Estonia, New York 2016, in: sehepunkte 18,4 (2018), https://www.sehepunkte.de/2018/04/31662.html (19.10.2023).